Als Kind nannten mich alle „Sonnenschein“.

Von einem Kind wurde ich zu einem jungen Mädchen: Zu laut, zu sensibel, zu aufgedreht, zu kindlich, zu viel – und ich sog jedes Wort auf, wie ein Schwamm.

Ich kann ihn nicht mehr benennen, diesen Moment, in dem sich etwas in mir veränderte. Der Augenblick, in dem ich die kindliche Unversehrtheit gegen einen gedankenverlorenen Blick eintauschte.

„Du hast früher so viel gelacht“, hörte ich die Leute leise, fast wehmütig sagen und jeder Tropfen Wehmut ging auf mich über, legte sich mit einer Schwere auf mein Herz.

Ich zuckte mit den Schultern und zog einen Mundwinkel hoch, der nur noch der Umriss eines Lächelns war.

In einem anderen Moment hätte ich vielleicht gesagt, dass ich mich wohl daran erinnere, wer ich war und nicht weiß, wie ich wieder so werden kann. Dass ich nicht weiß, wann ich mich verloren habe und keinen Anhaltspunkt finde, wo ich beginnen soll zu suchen.

Ich fing an zu schreiben und wusste in diesem Augenblick noch nicht, dass mich jedes Wort näher an Land bringen würde. Dass mich das Schreiben aus der rauen See herausziehen und die Schatten in den Augenwinkeln eines jeden Lachens verschwinden lassen würde.

Wort für Wort und Tag für Tag – bis heute.

Eigentlich geht es vor allem um Ehrlichkeit. Nichts umschreiben, umrunden. Kreise und irgendwo doch eine Grenze ziehen. Ich habe schon so oft von meinen Narben geschrieben, auch – oder vor allem von denen, die man nicht sehen kann. Habe Metaphern vorgeschoben und ein Bild gemalt, Worte in Watte verpackt, bis doch nichts mehr sichtbar war.

Die Wahrheit vor mir selbst getarnt.

Aber Narben können nur wirklich heilen, wenn wir bereit sind hinzusehen. Wahrnehmen und erkennen. Anerkennen und lieben lernen.

Ich wollte so oft sein, wer ich nicht war und bewegte mich zwischen zu viel und zu wenig. Wandelte auf Zehenspitzen und tanzte beinahe, nur um niemandem im Weg zu stehen.

Klein, um niemandem zu groß zu werden. Bis ich wirklich erkannte, was diese Narben waren. 

Der Beweis, dass ich lebe. Wahrhaftig und mit allem, aber vor allem wer ich bin.

Manchmal laut und oft sehr leise. Ein Sonnenschein, Quatschkopf und Tollpatsch. Sehr oft nachdenklich, sensibel und mitfühlend, ehrlich und viel zu selbstkritisch. Alles und noch mehr dazwischen.

Das Leben ist die Balance aus allem. Aus jeder Emotion und jedem Moment, der uns näher zu uns selbst bringt. Auch der Schmerz.

Vielleicht sind wir im Leben viel öfter zerrissen als ganz. Und während wir die Teile nehmen, sie neu zusammensetzen, erschaffen wir etwas Großartiges. Sehen zum ersten Mal jedes Teil an, um es besser zu verstehen.

Und jetzt, durch all die kleinen Risse kann ich sehen, dass die Narben zu meinem Körper, die Traurigkeit zu meinem Lachen und ich wirklich zu mir gehöre.

Die Schreibwerkstatt von Kea von Garnier

Dieser Text ist während der Schreibwerkstatt der Klasse 2021 entstanden und es war so besonders, so echt, dass ich ihn hier gerne mit dir teilen wollte. Vorgelesen und mit ein paar mehr Gedankenfetzen über den Prozess und was es heißt ehrlich zu sein, findest du in diesem Video. Außerdem noch weitere ganz wunderbare Texte von drei Teilnehmerinnen der Schreibwerkstatt.

Du möchtest selbst endlich regelmäßiger schreiben und in die Umsetzung kommen? HIer geht’s zu Keas Warteliste: Schreibwerkstatt 2022 Warteliste

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